Markus Gull

Pusht du noch oder pullst du schon?

Im Jahre 1864 ging die erste Werbeagentur der Welt in Betrieb. Als Mediaagentur, so überliefert es die Legende, die die Creation – damals naturgemäß auf die Gestaltung von Anzeigen beschränkt – mitlieferte und dafür die berühmte Agenturprovision als Belohnung erhielt. Spätestens dann wurde offiziell etabliert, was Werbung will: möglichst vielen Menschen ein unwiderstehliches Angebot vor die Nase pushen. Willkommen im Advertising Age.

An dieser Push-Denke hat sich bis heute nichts geändert. Auch wenn wir längst erkannt haben, dass wir Effizienz-halber präzise targeten müssen, um dem Streuverlust, der Syphilis des Werbeplaners, zu entgehen. Willkommen im Adverstalking Age.

Gestern wurde mir auf Facebook erstmals Unterbrecherwerbung in ein Video gepusht. Es war für ein Produkt, das ich nicht kannte, jedenfalls für den asiatischen Markt gemacht. Es sieht ganz danach aus, dass irgendjemand ein wenig an seinen Stalking-Skills arbeiten sollte.

Storytelling als zentrale Business-Skill

Apropos Skills. Weltweit ist man sich einig, dass Storytelling eine der wichtigsten Business-Skills unserer Zeit ist und vermutlich schon immer war. Denken wir nur zum Beispiel an Jesus (von Nazareth), der Storytelling weiß Gott erfolgreich im Skillset hatte.

Storytelling schafft es mittlerweile in jede einschlägige Strategie, auf jeder Konferenz taucht Storytelling auf. Dort bleiben dann weniger Sitzplätze leer als bei Helene Fischer-Konzerten. Ich werde mitunter als Storytelling-Keynoter zu Tagungen eingeladen, bei denen ich einiges an Phantasie brauche, damit ich den Zusammenhang erkenne. Vielleicht werde ich auch nur manchmal mit Helene Fischer verwechselt.

Seine Buzzword-Eignung bezieht Storytelling unter anderem aus einem anderen Buzzword, nämlich Content Marketing. Denn auch in denjenigen Unternehmen, in denen man es nicht zugibt, hat man mittlerweile verstanden, dass Werbung wie wir sie kennen, bei weitem nicht mehr so funktioniert wie wir es gerne hätten. Die Menschen machen nicht mehr, was wir wollen. Willkommen im Beyond Advertising Age.

Content Marketing? Ja bitte!

Content Marketing ist ein goldrichtiger Weg und gar nicht so wahnsinnig neu. Schließlich ist die Bibel ja nach wie vor das meistverkaufte Buch der Welt. Sorry, Harry Potter.

Wenn Content Marketing gnadenlos den Nutzen des Publikums im Fokus hat und aus dem Markenkern, aus der Brandstory entwickelt wird und somit den Markenwert nährt, dann ist das nicht nur eine besonders wirkungsvolle Methode, eine Marke mit ihrem Publikum zu verbinden, sondern auch noch ein besonders respektvolle, also intelligente. Genau in diesen Details sitzt der Teufel, zum Angriff bereit.

Reicht Aufmerksamkeit durch Lärm?

Die allermeisten Beispiele, die über Mega-Reichweiten, Views, Klickraten und ähnliche Parameter abgefeiert und gerne als coole Aktion oder geiler Scheiß apostrophiert werden, beschränken sich genau auf eine Sache: Aufmerksamkeit. Sie schaffen also – meist mit einigem Geld unterfüttert – Bekanntheit für Bekanntes, leben vom Spektakel und wecken durch die weite Verbreitung die trügerische Hoffnung auf die Wirkung, die man sich davon verspricht. Viele dieser zweifellos in sich gut gemachten Aktionen – in zunehmendem Maß als Filme am Internet präsentiert – sind so weit von der Brandstory entfernt, dass man nicht einmal den Claim der Marke draufsetzen kann oder könnte, weil schlichtweg kein Zusammenhang existiert.

Dahinter steht die Gier nach massenhafter Verbreitung, die Illusion, tatsächlich ein so genanntes Viral produzieren zu können, ein Video, dass die Menschen wie verrückt teilen und dadurch gratis für den Verkaufserfolg von Produkten sorgen. Das ist nicht Content-Marketing, das ist im besten Fall Schleichwerbung, in Wahrheit aber ein Schuss in den Ofen. Also nichts als der Lärm vor der Niederlage, wie Sun Tsu, chinesischer General und Storyteller, bereits 500 vor Christus zu Protokoll gab.

Push ist tot. Hoch lebe Pull.

Wenn sich an der Denke aus 1864 nichts ändert, wir also weiterhin meinen, es wäre ein Erfolg, wenn wir möglichst vielen Menschen unser Zeug vor die Nase pushen, wird’s finster. Die besondere Wirkung von Storytelling und Content Marketing liegt nämlich im direkten Gegenteil von Push, im Pull.

Wenn wir unser Publikum mit Dingen inspirieren, die in seinem Leben Nutzen bringen, dann müssen wir es nicht verzweifelt verfolgen, sondern die Menschen werden zu uns kommen. Die Voraussetzung dafür ist, dass jede Marke drei einfach Prinzipien versteht und aktiviert:

  1. Welchen Kernwert spreche ich nachhaltig an, also: welche Sehnsucht der Menschen teile ich?
  2. Wodurch kann ich diese Sehnsucht gleichermaßen stillen und nähren?
  3. Was kann ich anregen, verteilen oder initiieren, das den Menschen so wichtig ist, dass sie es weiter verteilen, weil sie dadurch mehr über sich selbst erzählen als über mich?

Das allerbeste – und erfolgreiche! – Beispiel wie man so etwas macht ist das von mir immer wieder gepriesene #likeagirl von Always. Schau dir dieses Projekt unbedingt an.

Die Prinzipien sind einfach, ihre Umsetzung ist es ganz und gar nicht. Dafür braucht es als Grundvoraussetzung eine veränderte Haltung im Unternehmen selbst und nicht nur viele junge Leute mit Snapchat-Account in der Marketingabteilung. Das beginnt bei der Unternehmensführung und umfasst alle Abteilungen, besonders natürlich Marketing, Vertrieb, Service und zu aller erst Human Resources – Stichwort Employer Branding.

You can’t do epic shit with basic people.

Und dann braucht es auf der Umsetzungsseite Kommunikations-Profis. Leute, die die vielgerühmten guten Ideen haben gibt es ja zum Glück mehr als genug. Ebenso besteht an technologischen Wunderwaffen mittlerweile kein Mangel mehr. Nötig sind Menschen mit den richtigen Ideen, die dann Technologie so einsetzen, wie es Sinn macht und nicht als Massen-Störungs-Waffe.

Was allerdings kaum zu finden ist, sind Menschen, die Storytelling tatsächlich beherrschen und nicht systematisch echtes Storytelling mit aufregenden Aktionen und gut erzählten Witzen verwechseln. Wie in vielen anderen Bereichen fühlen sich auch hier viele berufen, aber nur wenig sind auserwählt. Denn wie heißt es so schön: „You can’t do epic shit with basic people.”

Der Mensch wird durch Geschichten menschlich.

Geschichten und das Erzählen von Geschichten macht uns erst zu Menschen. Diese Fähigkeit hat uns vom Neandertaler in den Homo Narrans verwandelt und so letztlich nicht weniger getan als den Fortbestand unserer Spezies zu sichern. Dahinter stehen seit Menschengedenken archaische Prinzipien, die längst erforscht sind und zur Anwendung bereit stehen. Am besten ist für jedes Unternehmen, wenn dieses Verständnis im Haus entwickelt und verankert ist, denn nur wenn man das kann, verwandelt sich nerviges Push in magnetisches Pull.

Und auch wenn Storytelling mittlerweile als nerviges Buzzword durch jedes Dorf getrieben wird, gilt für jedes Unternehmen, ob jung oder alt: „No Story. No Glory.”

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