Markus Gull

Brandstory & Purpose: Was wir aus der Gillette-Kampagne lernen können.

So erfindungsreich er auch war, aber das hätte sich vermutlich nicht einmal er ausdenken können. Nämlich, dass er im ersten Produktionsjahr nur 168 Stück seiner Erfindung verkauft, aber 14 Jahre später alleine die US-Regierung 36 Millionen Stück bestellt. Zweifellos heißer Scheiß, den er da erfunden hat, damals, im Badezimmer, wo nun einmal oft und oft Geistesblitze einschlagen, unter der Dusche, oder – so wie bei ihm – beim Rasieren.

Der Laden brummte. Aber wie! „Einhorn!“, möchte man begeistert ausrufen. Aber was heißt da Einhorn, bitte? 2004 betrug der Umsatz über zehn Milliarden Dollar bei einem Gewinn von über zwei Milliarden, und heute erarbeiten dort fast 30.000 fleißige Leute einen Marktanteil von an die 70 Prozent. Aber das alles erlebte er nicht mehr mit.

 

Zu faul zum Lesen? Dann hör mir zu:

Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

 

Als er, King C. Gillette, im Juli des Jahres 1932 verblich, war seine Erfindung in aller Munde oder vielmehr um aller Munde. Sein Einwegrasierer war der Standard, der Elektrorasierer noch nicht erfunden.
Damals wurde eben rasiert, was rasiert werden sollte. J. Walter Thompson, der Gründer der ersten Werbeagentur der Welt, trug zwar Bart, ebenso William Procter, einer der beiden Procter & Gamble-Gründer, dessen Company professionelles Marketing in die Welt brachte, seit 2005 Eigentümer von Gillette ist und sich dieser Tage mit einem Relaunch der Kampagne „Gillette – The best a man can get.“ in die Schlagzeilen, ins Gespräch und ins Gerede brachte. Jetzt heißt es „Gillette – The best men can be.“ und mit dem Startfilm der Kampagne sagt das Unternehmen: „Bullying. Harassment. Is this the best a man can get? It’s only by challenging ourselves to do more, that we can get closer to our best. To say the right thing, to act the right way. We are taking action. Join us.“

 

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Storytelling statt Werbung ist angesagt.

Ja, klassische Werbung hat nun mal sowas von einem Bart. Und zwar nicht im Sinne von hipsterhafter Streetcredibility-Bart, sondern im Ursinn der Metapher: von vor-vor-gestern. Deshalb rennen ja landauf-landab hipsterhaft Streetcredibility-Bärtige und ihre Kolleginnen herum und verstopfen mit Buzzwords wie „Storytelling“, „Brand-Purpose“ und „Content-Strategy“ in bemerkenswerter Häufigkeit und Dichte die Ohren aller, die auf der Suche nach Möglichkeiten sind, um:
1) ihre Produkte zu verkaufen
2) mit ihrer Werbung möglichst viele Menschen zu erreichen und
3) bei den Millennials einen fetten Stein ins Brett zu treiben.

Für Produkte der Marke Gillette ist unsere Zeit gerade eine mehrfach blöde. Einerseits werden heute als Ausdruck persönlicher Individualität weniger Männergesichter und Frauenachseln rasiert, als es sein sollte, andererseits ist das Thema Innovation in diesem Bereich im wahrsten Sinne enden wollend. Denn wenn Gillette sein Innovationsmodell „Ausdehnung der Gegenwart“ nicht akut und radikal ändert, ist der Tag nicht fern, an dem wir 15 Klingen in einem Rasierer mit beheiztem Griff haben, während ein – Achtung: Szene-Lingo – Uberunter den Rasierern den emsigen Leuten von Procter & Gamble den Hobel ausbläst und einen fetten Strich durch die PowerPoint-Slides macht.

Storytelling ist mehr als Preis und Wert, gut erzählt.

Junge Firmen wie Harry’s oder Dollar Shave Club haben ihre Garagen bereits mit rauchenden Radkästen verlassen und nehmen Kurs auf jene, die sich heute noch nicht rasieren, und jene, die es bald wieder tun werden, weil ja jede Mode bekanntlich von nichts anderem abgelöst wird als von ihrem Gegenteil. Und früher oder später wuchern aus jedem Körper irgendwo Haare, die man dort nicht sehen will, Wachs und Pinzette sind nicht immer tauglich für die Gegenwehr, und App gibt’s dafür definitiv keine. Wobei: Der Bart ist App wäre ein hübscher Claim, oder?

In erster Linie geht es bei diesen jungen Unternehmen um den Preis, was mittelfristig ins Auge gehen wird. Allerdings, so das Ondit, veranlasste die junge Konkurrenz Gillette mittlerweile zu einer 20-prozentigen Preisreduktion. (Quasi-)Monopole müssen zweifellos früher oder später Federn lassen, aber umso mehr tut jede Marke gut daran, mit ihrem Publikum in ein qualifiziertes Gespräch zu kommen, damit der Preis nicht als einziges Gesprächsthema bleibt. Das gilt auch für die neuen Marken, die derzeit im tieferen Preis ihr erfolgreiches Hauptargument erkennen.

Insofern ist die Entscheidung von Gillette goldrichtig, ja überlebensnotwendig, ihren Brand Purpose zu entdecken und zu aktivieren. Dass dies wunderbar erfolgreich und auch im übergeordneten Sinn nötig, wichtig und eben sinn-voll sein kann, hat die Gillette-Mutter ja bereits mit ihrer großartigen Arbeit #likeagirl für ihre Marke Always vorgeturnt. Hier gibt’s dazu mehr. 

Brandstory heißt: Das ist unser Standpunkt.

Ich finde es ganz grundsätzlich nötig, wichtig und sinn-voll, dass sich Unternehmen und Marken um gesellschaftliche Anliegen kümmern, genauso wie das jeder Einzelne von uns machen sollte, weil ja bereits Erich Kästner wusste: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Für jene mit der reflexhaften „Ich allein kann doch nicht …“-Ausrede hält Margaret Mead eine kluge Antwort bereit: „Never doubt that a small group of thoughtful, committed, citizens can change the world. Indeed, it is the only thing that ever has.“ Das können ja auch Unternehmen oder Marken tun. Warum nicht? – Das können Unternehmen sogar ganz besonders gut!

Unternehmen und Marken nehmen ja für sich in Anspruch, wichtige, tragenden Teile der Gesellschaft, des Wohlstandes und der Kultur im weitesten Sinne zu sein, was ich mit heißer Tinte aus dickem Füller unterschreibe. Allerdings verlangt das, dass sie sich genau so verhalten. Denn nahezu jedes Unternehmen hat doch irgendwo in seinen Leitsätzen stehen: „Verantwortung, Nachhaltigkeit, Einklang mit Natur und Umwelt“. Und du musst nicht lange in Leitbildern und Vision-Mission-Statements herumsuchen, bis irgendwann der Mensch im allseits beliebten Mittelpunkt herumsteht, oder?

Außerdem kümmert sich ja sonst kaum jemand wirklich ernsthaft. Wären nicht Politiker die Gestalter und Anführer eines Landes? Sie wären doch Unternehmer in Sachen Zukunft, nicht bloß Staats-CEOs. Fürs Managen wären wir ja mit Beamten reichlich versorgt. Aber was machen Politiker regelmäßig nahezu überall? Politiker suchen mit Meinungsumfragen Marktlücken ab, damit sie dort einen billigen Wählervorteil möglichst teuer hineinverkaufen. Sie haben Verpackung und Verkaufe im Sonderangebot und verwechseln das mit Produkten. Sie gestalten nicht, sie bilden ab, was sie in Meinungsumfragen entdecken. Sie schwänzen ihren Beruf. Es fühlen sich eben viele berufen, allein – nur wenige sind auserwählt. Gewählt und auserwählt ist nicht dasselbe.

Dieses Vakuum könnten und sollten Unternehmen und Marken füllen. Das wird ihnen von den Menschen nicht nur zugetraut, sie verlangen es sogar.
Weil’s grad passt, hier ein paar Zahlen aus dem aktuellen repräsentativen internationalen Edelman-Report. Zahlen, die vermutlich nicht nur jene, die im Sternbild des Excel geboren sind, geil finden:

53 % der Befragten stimmen der Aussage zu, dass Marken mehr zur Beseitigung sozialer Missstände tun können als Regierungen; fast die Hälfte sagt, Marken haben dafür auch die besseren Ideen.

64 % sagen, CEOs sollen positive Veränderungen einleiten und nicht darauf warten, dass sie von Regierungen angeordnet werden.

54 % glauben, es ist einfacher, Marken anstatt Regierungen dazu zu bringen, gesellschaftliche Verbesserungen in Angriff zu nehmen.

Oder eine Untersuchung der Julius-Raab-Stiftung aus Österreich zeigte: Von Mediennutzung über den Arbeitsmarkt, Bildung und Ausbildung bis hin zu Nachhaltigkeit, Umweltschutz, medizinischer Versorgung und zum Finanzmarkt trauen die Menschen den Unternehmen mehr Problemlösungskompetenz zu als der Politik oder NGOs.

Als Entwickler neuer sozialer Systeme werden die Unternehmen von 89 % als sehr oder einigermaßen wichtig gesehen.

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Zahlt sich Brand Purpose aus?

Wenn du dich fragst, ob das wirtschaftlich Sinn ergibt, dann sage ich dir: Alles andere ergibt keinen Sinn. Woher ich das weiß?
Der Meaningful Brand Index untersucht seit über zehn Jahren jedes Jahr, weltweit und in den unterschiedlichen Märkten und Branchen bei 300.000 Menschen, ob Marken mit Bedeutung wirtschaftlich besser performen als solche ohne. 
Dazu drei deutliche Antworten:
1) Marken mit Bedeutung haben um 137 Prozent bessere KPIs als andere.
2) Marken mit Bedeutung gewinnen um fast zehnmal mehr Anteil am Share of Wallet als andere.
3) Marken mit Bedeutung haben in den letzten zehn Jahren die anderen Marken an der Börse um 206 Prozent übertroffen.

Entscheide selbst, wie sinnvoll das ist.

Unilever zum Beispiel hat bereits entschieden, und Unilever wurde bekanntlich nicht zum Bäumeumarmen erfunden. Dort erkannte man, dass ihre beiden Marken mit Bedeutung – Dove und Ben & Jerry’s – doppelt so schnell wachsen wie die anderen, und rief ein Purpose-Programm für alle Marken aus. Noch Fragen?
Dann frag am besten Laurence D. Fink. Der Gründer und CEO des weltweit größten Investmentfonds BlackRock schrieb vor knapp einem Jahr einen offenen Brief an die Wirtschaft. Die Kernbotschaft: „Without a sense of purpose, no company, either public or private, can achieve its full potential. … Society is demanding that companies, both public and private, serve a social purpose …“
Ich gehe nicht davon aus, dass Larry Fink plötzlich vom vielen Vanilletee-Trinken ein Herz gewachsen ist. Aber wer, wenn nicht er, weiß verdammt genau, wo und wie in Zukunft Geld verdient wird?

Und hier schließt sich der Kreis zum Marketing und zu Gillette. Es geht nicht (nur) um schlaue Werbekampagnen, emotionale Filme und um Unterstützungsgeld für passende Charities. Das wäre nicht nur zu kurz gedacht, das wäre überhaupt nicht gedacht.

Es geht hier um Content Marketing in seiner umfassendsten, reinsten Form. Ich sage meinen Klienten stets: „Ab heute seid ihr eine Content Company. Alles, was ihr macht, ist Content.“ Im Falle von Gillette könnte man sich mit einem Teil dieses Contents rasieren, bei Ben & Jerry’s kann man einen Teil des Contents essen.

Die Menschen lieben Content – nicht nur den essbaren. Im oben zitierten Report sagen 84 % der Befragten, sie wollen Branded Content, finden aber 60 % des gebotenen Contents wertlos. Ich fürchte, Gillette gehört dazu, wenn man einen Blick auf die Website der aktuellen Kampagne wirft. Dieser Kampagne fehlt nämlich die erfolgsentscheidende Voraussetzung.

Ob Purpose-Kampagnen oder -Movements Erfolg haben, weiß kein Mensch. Das verhält sich hier nicht anders als überhaupt bei allem, was neu ist. Aber eines ist gewiss: Wenn du diese eine Voraussetzung nicht erfüllst, dann bekommst du mit viel Glück im besten Fall eine Werbekampagne, die halt auch so eine von denen ist, die sich mit einem Bein im Greenwashing wichtig machen, aber in Wirklichkeit nichts anderes im Schilde führen, als sich auf diesem aktuell trendigen Weg in die Geldtaschen von Endverbrauchern zu tricksen. Man erkennt die Absicht und ist verstimmt. Zu Recht!

Die unumstößliche Voraussetzung ist:

 Das Anliegen muss authentisch sein.
 Das Anliegen muss der Company wirklich am Herzen liegen, nicht eine Möglichkeit für Kommunikation sein, und es muss zur Marke und zum Produkt passen. Hier habe ich mehr dazu geschrieben, und hier gibt’s auch sechs erste Schritte und sieben zentrale Fragen für das Finden & Entwickeln deines Brand Purpose.
Die Amerikaner verwenden die schöne Formulierung „Put your money where your mouth is.“ Ein schöner Überprüfungssatz für alle Unternehmen, denen die Gesellschaft so sehr am Herzen liegt, dass sie das auch in ihrer Werbung verbreiten müssen. Anders gefragt: Zahlt ihr eure Steuern, damit die Kinder in jener Gesellschaft, die euch so wichtig ist, Kindergärten haben, damit die Krankenversorgung funktioniert und Geld für Schulen da ist, oder schubst ihre eure Gewinne durch Steuerschlupflöcher aufs Auslandkonto mit der Nummer sicher?

Patagonia erhielt im vorigen Jahr einen Steuerbonus und steckte das Geld nicht ein, sondern gab es an Umweltorganisationen weiter. Eine nette Geste, finde ich. Übrigens: Es geht hier um schlanke zehn Millionen Dollar! 
 Es könnte sein, das es in der Authentizität des Anliegens von Gillette noch einige ungenützte Reserven gibt, wenn man den Gedanken eines Tweets der britischen Visagistin Caroline Hirons aufgreift:

Es wäre also nicht verkehrt, wenn sich die Verantwortlichen im Hause Gillette anlässlich ihrer nächsten Rasur Michael Jacksons weise Worte ins Gedächtnis riefen:
I’m starting with the man in the mirror
/I’m asking him to change his ways
/And no message could have been any clearer
/If you want to make the world a better place
/Take a look at yourself, and then make a change.

Wenn die tapferen Ritter mit den scharfen Klingen dann auch noch das tun, was du tun solltest, nämlich ihre eigene Kampagnen-Website besuchen, dann wird die Suppe dünn und klar. Man sieht nämlich bis auf den Boden der Schüssel und erkennt, dass man bei Gillette „Join us.“ sagt, aber „Buy our fucking products“ meint. Das ist wirklich schade und das Gegenteil einer Brandstory. Das ist Storytelling in der vertrottelten Art, die mittels Buzzwords aufgeschäumt und durchgegurgelt wird. Wert-los und sinn-los, als zeitgemäße Art von Werbung missverstanden und als Bullshit erlebt.

Das allerbeste Beispiel dafür, wie es nicht geht, hat vor einiger Zeit Pepsi mit Kendall Jenner geliefert. Warum diese Aktion in die Hose gehen musst, gibt’s hier.

Ein Anliegen ist ein Anliegen, nicht nur eine Möglichkeit.

Das Anliegen von Gillette ist prinzipiell großartig und würde perfekt zur Marke passen, mit einem reichen Potenzial an Purpose, Werten, Sinn und somit ein beispielhafter Idealfall von Storysharing, das sein Publikum involviert und aktiviert und somit tatsächlich etwas bewegen kann.

Jede und jeder kann vermutlich unterstützen, dass das Rollenverständnis des Mannes und das Bild, das er in unserer Zeit zeichnet, lebt und erlebt einer intensiven grundlegenden Überarbeitung verlangt und jeder konstruktive, positive Beitrag dazu höchst willkommen ist.

Sich als Marke, zumal in #metoo Zeiten, auf dieses Spielfeld zu begeben ist mutig und verdient Respekt. Allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen es genügt, sich mit emotionalen Werbefilmen als Robin Hood zu verkleiden, in der Erwartung, man würde dafür belohnt. Dafür ist der Film insgesamt einfach viel zu schlecht.

Der Letztstand der Bewertungen auf YouTube, den ich gesehen habe, war, dass es ungefähr halb so viele Likes gab wie Dislikes, und Letztere waren immerhin über eine Million.

Hätte ich mit dieser Aktion zu tun, ich würde spätestens Mitte der Woche langsam beginnen, ein paar Optionen zu prüfen …

Gemeinsame Werte, gemeinsame Sehnsucht – wir alle gemeinsam sind Teil eines größeren Ganzen. Denn wir kaufen keine Produkte, wir kaufen, was wir sein wollen – manchmal sogar in so profaner Gestalt wie der eines Rasierers.

Die Zu-kurz-Denker – oder Gar-nicht-Denker – schreien Storytelling, meinen aber Werbegag und denken nicht an das Anliegen der Marke, sondern vor allem an ihr eigenes, das meistens aussieht wie ein Goldener Löwe beim Werbefestival in Cannes.

Egal ob Weltkonzern, ob KMU/kleine und mittlere Unternehmen oder heldenhafte Einzelkämpfer als EPU – jeder Mensch, jede Marke, jedes Unternehmen hat und braucht Authentizität, genährt von mindestens einem archaischen Wert als Motor für ihre Story, um die sich alles dreht. Wenn du keinen magnetischen Wert als lebendiges Thema hast, bleibt dir nämlich nur noch ein einziges anderes: der Preis.

Allen, die also sagen: „Für mich und meine Marke gilt das nicht!“ seien jene Worte ans Herz gelegt, die meine Großmutter, die alte Story Dudette, mit einer stumpfen Rasierklinge in die alte Eiche hinterm Haus von King C. Gillette in Massachusetts ritzte: „No Story. No Glory.“

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